Literatur und Krieg in der deutsch-französischen Geschichte

Ein Bericht zum deutsch-französischen Seminar in Verdun (September 2003)

von Christian Ernst und Christian Francke

Wenn Literatur und Krieg wie im Titel dieses Seminars so nebeneinander geschrieben stehen, bekommt das „und" viele Bedeutungen, ist mehr als eine Konjunktion. Es gibt Literatur über Krieg; Literatur spielt eine Rolle vor, nach und in Kriegen; Literatur kann Krieg darstellen, legitimieren oder kritisieren; Krieg benutzt und verändert Literatur; Literatur wird geschrieben, obwohl Krieg herrscht - es gibt Krieg trotz Literatur. Und Literatur ist Medium der Erinnerung an den Krieg.

Verdun als Ort der Erinnerung

Auch ein Ort kann zum Medium der Erinnerung werden: Verdun ist vom „Schauplatz" zum Symbolort des Krieges geworden, zum Mythos einerseits und andererseits zu dem konkreten französischen Erinnerungsort (lieu de mémoire) an den Ersten Weltkrieg schlechthin. Das Gebiet der ehemaligen Schlachtfelder ist neben den Spuren des Krieges heute mit Spuren der Erinnerung durchzogen: Kriegsgräber, Museen, Gedenkstätten, Gedenktafeln und Mahnmale vergegenwärtigen das oft titulierte „Unvorstellbare" - ein paradoxes Konzept von Authentizität. Dies setzt sich in der Stadt in einer Architektur der Erinnerung fort: das 1924 errichtete und nach Deutschland gerichtete Siegesdenkmal führt die Rolle Verduns als Festung vor Augen. Die vor vier Jahren begonnene Umgestaltung der Innenstadt rückt das Denkmal durch Wasserläufe, die Denkmal und Quai miteinander verbinden, noch mehr ins Zentrum, ohne es zu brechen. 1990 wurde im ehemaligen Bischofspalais das Centre Mondial de la Paix (Weltfriedenszentrum) eröffnet, das sich für internationale Verständigung und Friedenserziehung einsetzt und sich mit einer eigenen Ausstellung „14-18 Imaginaires et Réalités - Messages d'hier pour la paix" („14-18 Vorstellungen und Wirklichkeit - Botschaften von gestern für den Frieden") bewusst von dem Konzept des Mémorial de Fleury absetzt. Die am Ort festgemachte Erinnerung ist diffus und umstritten.
Die Stadt Verdun, in den Broschüren des Tourismusbüros inzwischen „Welthauptstadt des Friedens" genannt, profitiert dabei weiterhin von anhaltenden Touristenströmen aus aller Welt, an erster Stelle aus Frankreich selbst, immer weniger aus Deutschland. Ist Verdun ein französischer Erinnerungsort?
Verdun ist unbestritten einer der Schlüsselorte im französischen kollektiven Gedächtnis und in Pierre Noras Lieux de Mémoire entsprechend behandelt. In dem von Hagen Schulze und Etienne François herausgegebenen deutschen Pendant Deutsche Erinnerungsorte gibt es aber kein Kapitel zu Verdun. Liegt das daran, dass Verdun von den Deutschen mittelbar und immer noch negativ als Ort der Niederlage erinnert wird, während es für die Franzosen Kristallisierungspunkt nationaler Selbstverständigung bleibt? In dem Band Allemagne-France. Lieux de mémoire d´une histoire commune geht Gerd Krumreich genau dieser Frage nach:
Verdun est demeuré et demeurera, pour l´une des deux nations - la France -, un lieu de souvenirs collectifs positifs ; c´est précisément cette « différence » au niveau de la signification nationale de ce lieu qui a ouvert la voie à une volonté commune de paix : Verdun est le point de départ vers une nouvelle sorte de souvenirs communs franco-allemands.
[Verdun ist und bleibt für eine der beiden Nationen - Frankreich - ein Ort der positiven kollektiven Erinnerung; genau diese „Differenz" in der nationalen Bedeutung des Ortes hat aber einen Weg zu einem gemeinsamen Willen zum Frieden geöffnet: Verdun ist der Ausgangspunkt zu einer neuen Art gemeinsamer deutsch-französischer Erinnerungen.]

Krumreich belegt seine These u. a. mit dem Bild von Kohl und Mitterrand, 1984 Hand in Hand der Opfer des Krieges vor dem Gebeinhaus von Douaumont gedenkend. Doch die Erinnerung an Verdun hat sich längst vom Ort selbst gelöst, Verdun ist auf französischer und deutscher Seite in vielfältiger Weise in die Literatur eingegangen, literarisiert worden. „Verdun" ist somit ebenfalls ein Ausgangspunkt deutsch-französischer Literaturgeschichte und idealer Tagungsort für ein Seminar „Literatur und Krieg in der deutsch-französischen Geschichte", wo Deutsche und Franzosen gemeinsam über das komplexe Verhältnis von Literatur und Krieg nachdenken.

Das Seminar als Ort des Dialogs

Im September 2003 fand dieses Seminar in Verdun statt. Es wurde von Studierenden der Universität Potsdam initiiert und von Zeitpfeil e.V. in Zusammenarbeit mit dem Institut für Germanistik der Universität Potsdam und dem Weltfriedenszentrum Verdun veranstaltet. Es wurde vom deutsch-französischen Jugendwerk und der Landeszentrale für politische Bildung Brandenburg gefördert. Zeitpfeil ist ein Verein junger Menschen (Studierende, Absolventen, Schüler und Zivildienstleistende) mit Sitz in Potsdam, der Seminare, Studienreisen und Begegnungen organisiert, die zum Ziel haben, gesellschaftliche Dialoge über Geschichte und Gegenwart zu initiieren. Das Seminar ging aus vom Wunsch der Studierenden nach einer Alternative zum Lernen in normalen Universitätsseminaren, die darin von Prof. Dr. Helmut Peitsch unterstützt wurden, der das Projekt beriet und begleitete. Gemeinsam wurde das Seminar inhaltlich und methodisch als Ort des Dialogs konzipiert.
Das Thema „Literatur und Krieg in der deutsch-französischen Geschichte" ist bewusst weit gefasst worden: es ist unmöglich, zu einem Schluss zu kommen. Stattdessen sollte jedem Teilnehmer durch eine offene Programmkonzeption ermöglicht werden, seine Interessen und Sichtweisen einzubringen und im Dialog mit anderen Perspektiven ein persönliches Puzzle zusammenzufügen. Dabei wurde von einer ständigen Verzahnung zwischen Krieg und Literatur ausgegangen. An Beispielen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert sollten im Seminar Texte und Kontexte analysiert werden. Die Auswahl der Autoren, Texte und Aspekte richtete sich dabei nach vier Querschnittsthemen:

Dabei wurden vor allem Texte und Autoren gewählt, die Kriege zwischen Deutschland und Frankreich zum Gegenstand haben, so z.B. Goethes Kampagne in Frankreich, Henri Barbusses Le feu und Arnold Zweigs Erziehung vor Verdun. Der Rolle Verdun als symbolischer Ort des Ersten Weltkriegs und deutsch-französischer Geschichte wurde dabei auch in der Auswahl der Texte Rechnung getragen. Übersicht und Input wurden durch Impulsvorträge zu den Themenblöcken bereitgestellt. Große Teile der Seminargestaltung wurden von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern aber eigenverantwortlich gestaltet; sie leiteten das Seminar durch eine Lesung persönlich ausgewählter Texte ein und konzipierten und leiteten eigene Workshops innerhalb der Themenblöcke. Hier diskutierten Kleingruppen an selbst gewählten Textbeispielen und erarbeiteten Thesen, die im Plenum präsentiert und mit den Ergebnissen der anderen Workshops verglichen wurden.
In abendlichen Foren sollten Vergangenheit und Gegenwart sowie Literatur und andere Diskursformen durch Zeitzeugengespräche, Vorträge und eine Lesung in Beziehung gebracht werden. Wichtig in der Konzeption war auch die Öffnung des Seminars nach außen: viele Veranstaltungen waren öffentlich, Wert wurde aber vor allem auf Lernen außerhalb des Seminarraums gelegt.
Die Fremdenführerin Ingrid Ferrand führte die Seminargruppe zu wichtigen Orten auf den Kriegsfeldern in Verdun; besichtigt wurden das Mémorial, das zerstörte Dorf Fleury, das Fort Douaumont sowie das Gebeinhaus und der davor liegende Soldatenfriedhof. Dabei wurden den Teilnehmern Hintergründe zur Schlacht von 1916, Eindrücke vom Alltag der Soldaten im ersten Weltkrieg und Fakten zur Entstehungsgeschichte der Monumente vermittelt. Besonders nach dem Film und der Ausstellung im Mémorial kamen wesentliche Fragen zur Machart der Monumente, zu Verbindungen zwischen militärischem und religiösem Erinnern und zu den Unterschieden zwischen deutscher und französischer Erinnerungskultur auf.
Nach drei Tagen intensiver Seminararbeit in der Tagungsstätte bot eine Mountainbikeführung eine ideale Ergänzung zu der Führung im Bus, da die Besichtigung von Orten möglich wurde, die zu Fuß oder mit Fahrzeugen nur schwer zu erreichen wären. Die Tour machte möglich, das Gelände im wahrsten Sinne des Wortes zu erfahren und einen Eindruck seiner Topographie zu erhalten. Besonders eindrücklich wurden die Auswirkungen des Krieges auf die Natur und der Kontrast zwischen Natur und Krieg vor Augen geführt. Man erfuhr so auch über Umweltbelastungen durch Material- und Munitionsreste im Boden, die bis in die heutige Zeit reichen und zunehmend zu einer Gefahr für Mensch und Umwelt im Gelände werden. Diese Erkenntnisse werden laut der Referenten offiziell verschwiegen, da man Auswirkungen auf den durch die Schlachtfelder ausgelösten Tourismus befürchtet. Die besondere Praxis der Erinnerung durch eine Mountainbiketour wurde im Anschluss anhand der Frage diskutiert, ob man z.B. Schülern auf diese Weise den Krieg näher bringen könnte. Einige Teilnehmer empfanden das Mountainbike aufgrund seines Abenteuercharakters als unpassendes Mittel zur Erkundung der Kriegsfelder, andere meinten, dass gerade diese Erfahrung ihnen den Krieg besser verständlich
gemacht habe.
Anschaulichkeit, Offenheit und Raum für persönliche Sichtweisen und Kontroversen als Kern des Konzepts führten zu einem besonderen Seminar, das sich durch lebhafte, oft interdisziplinär geführte Diskussionen und einen intensiven menschlichen, deutsch-französischen Austausch auszeichnete. Die vielfältigen Inhalte und Ergebnisse des Seminars können hier nur in Ausschnitten wiedergegeben werden.

Nationale Traditionen der Kriegsdarstellung

Der Impulsvortrag und die Workshops zum Querschnittsthema „Nationale Traditionen der Kriegsdarstellung" konzentrierten sich auf die Geschichte der Kriegsberichterstattung. Helmut Peitsch zeichnete ausgehend von der Rezeption von Goethes Kampagne in Frankreich die deutsche Tradierung einer Perspektive nach, bei der Teilnahme in Beobachtung gewendet wird und Erfahrung höhere Einsicht in den Lauf der Geschichte begründet. Diskutiert wurde dabei die Bildung einer Tradition durch einen Kreislauf von Lesen und Schreiben.
In den Workshops wurden die Rolle der Natur in Goethes Kampagne in Frankreich sowie an Texten Laukhards und Fontanes Abhängigkeiten, Ziele und Formen der Kriegsberichterstattung erarbeitet. Im abendlichen Forum konnte historisch-literarische mit heutiger Kriegsberichterstattung in den Medien verglichen werden. Thomas Morawski, Auslandskorrespondent des BR und verantwortlich für Osteuropa und die Golfregion, berichtete von persönlichen Erfahrungen als Journalist in Krisengebieten, stellte eigene Berichte zur Debatte und diskutierte mit der Gruppe über journalistische Ethik. Zentral wurde die Frage diskutiert, inwieweit sich Medien und Krieg gegenseitig beeinflussen. Der Abend stellte so eine ideale Überleitung zum Querschnittsthema „Literatur als Medium des Krieges" dar.

Literatur als Medium des Krieges

Günter Schütz sprach am nächsten Tag über Alltagsgedichte aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, die in Form und Inhalt den Krieg propagierten. Er stellte die These zur Diskussion, Krieg entstehe durch Worte. In einer Gruppenarbeit wurden daraufhin einzelne Gedichte auf ihre Struktur hin analysiert. Abschließend wies Günter Schütz darauf hin, dass nicht nur der Krieg, sondern auch der Frieden mit Worten gemacht werde.
Die anschließenden Workshops zum Thema befassten sich vor allem mit Frontliteratur aus dem ersten Weltkrieg. Der französische Historiker Nicolas Beaupré arbeitete mit einer Gruppe Parallelitäten in Funktion, Verbreitung und Form von deutscher und französischer Frontliteratur als Teil einer spezifischen Kriegskultur heraus. Kontrovers diskutiert wurde der methodische Ansatz seiner Dissertation, aus Texten der Frontliteratur Rückschlüsse auf historische Realitäten zu ziehen.

Literatur als Gegendiskurs?

Die Beschäftigung mit dem Widerstand der Weißen Rose leitete zum Thema „Literatur als Gegendiskurs zum Krieg?" über. Ein Teilnehmer referierte über Inhalte und literarische Bezüge der Flugblätter der Weißen Rose, Anneliese Knoop-Graf ging in ihrem Zeitzeugenvortrag auf Einflüsse und Prägungen ihres Bruders Willi Graf ein, um über den problematischen Zusammenhang von Patriotismus und Widerstand zu reflektieren.
Die Workshops förderten Ambivalenzen in Stellungnahmen gegen den Krieg zu Tage. So kam z.B. ein Workshop zu dem Ergebnis, dass sich Henri Barbusse in seinem Roman „Le feu" zwar gegen den Krieg als solchen, nicht aber gegen den Krieg gegen das als militaristisch betrachtete Deutschland richtet.

Krieg und Fiktion

Die deutsch-französische Lesung mit Jacques Lindecker leitete zum letzten Querschnittsthema „Krieg und Fiktion" über. Der Kinderbuchautor und Journalist las aus seinem Text „Est-ce que je suis mort?", der aus den verknüpften Monologen eines englischen, eines deutschen sowie eines französischen Soldaten besteht. Teilnehmer lasen in verteilten Rollen die deutsche Übersetzung des Textes, „Bin ich tot?". In der anschließenden Diskussion zeigte sich, wie umstritten Schreiben über den Krieg, gerade in Texten für Kinder und Jugendliche ist. Kontrovers wurde vor allem der Anspruch des Autors debattiert, gerade im Erfinden von Handlungen und Situationen historische Wahrheit zu vermitteln.
Dies löste eine Debatte über die unterschiedliche Legitimität von Zeitzeugen und literarischen Texten aus. Im ersten Forum hatte der Maler Heinz Hochleitner von seinem Leben berichtet. Nach seiner Jugend in Tilsit wurde er Soldat an der Ostfront. In seinen Ausführungen über seine Kriegserlebnisse sprach er sich insbesondere gegen Heroisierungen von Soldaten aus. Am Krieg sei nichts Heldenhaftes, es zähle nur Überlebenswille, der für Nichtbeteiligte nicht nachvollziehbar sei. Am Beispiel einer von ihm erzählten Episode wurde diskutiert, inwieweit Fiktion und Wirklichkeit voneinander abzugrenzen seien und ob ein Zeitzeuge automatisch eine höhere Glaubwürdigkeit besitzen sollte, als jemand, der aus historischer Distanz fiktional vom Krieg erzählt.
Genau diese Frage war Gegenstand der Workshops am darauf folgenden Tag, in denen die Teilnehmer vor allem den Zusammenhang zwischen Krieg und Wahrheit problematisierten. Reflektiert wurden Konstruktionen autobiographischen Schreibens über Krieg - auch im Zusammenhang mit der Zeitzeugenproblematik, sowie Konstruktionen von Selbst- und Fremdbildern auf deutscher und französischer Seite (Zivilisation vs. Kultur). Anhand von Texten Max Aubs wurde auch die narrative Verfremdung des Krieges diskutiert.

Das Seminar kam so zu dem Schluss, dass Schreiben über Krieg Konstruktionen bedingt und zeigte, wie wichtig es ist, diese kritisch zu beleuchten. Es führte aber auch vor, dass im gelebten Dialog über Geschichte und Gegenwart Verständigung erzielt werden kann. Das war unsere Erfahrung in Verdun.

Dokumentation

Hier sind die Beiträge von Helmut Peitsch, Günter Schütz und Nicolas Beaupré dokumentiert. Folgende Beiträge der Studierenden sind im Internet unter www.zeitpfeil.org (in der Rubrik ´Dokumentation und Artikel´) nachlesbar:
- Esther Eichenauer und Sabine Trepsdorf: „Stefan Zweig: Erziehung vor Verdun"
- Christian Ernst: „Krieg und autobiographischer Text - Literatur und Zeugenschaft"
- Christian Francke: „Gegen den Krieg? Pazifistische Literatur zum ersten Weltkrieg am Beispiel von Barbusse und Cendras"
- Katrin Hoffmann: „Dichter als Berichterstatter: Johann Wolfgang von Goethe: Campagne in Frankreich"
- Patrick Küppers: „Selbstbilder / Fremdbilder: Diskurse um den Beschuss der Kathedrale von Reims"
- Sandra Piegler und Daniel Wehry: „Max Aub: Der spanische Bürgerkrieg in literarischen Bildern"
- Carsten Sass: „Versoffener Feldklatsch oder Ein Magister irrlichtert durch die Zeit: F.C. Laukhards (1757-1822) Briefe eines preußischen Augenzeugen über den Feldzug des Herzogs von Braunschweig gegen die Neufranken im Jahre 1792"
- Jürgen Wutschke: „Der Jungfrau zu Füßen - der Zeit die Stirn? Ein kurzer Exkurs zu Fontanes Büchern über den Frankreichfeldzug 1870/71"